Alle zwei Jahre wieder heißt es abwechselnd Welt- oder Europameisterschaft der Herren. Seit einigen Jahren ist es üblich, sich dann mit Familie, Freundinnen, Kollegen und Bekannten, zu Hause oder beim Public Viewing zum gemeinsamen Angucken der Spiele der deutschen Nationalmannschaft zu treffen. Dort werden dann fleißig Deutschlandfahnen geschwungen und alles scheint in „schwarz, rot, gold“ getaucht worden zu sein, ob Fahnen aus Häusern, an Autodächern oder eben am eigenen Körper. Ganz nach dem Motto „schwarz, rot, geil“ feiern alle zusammen die Siege der deutschen Mannschaft. Von deren Siegeszug euphorisiert, entsteht unter den Fans eine ausgelassene Feierstimmung. Plötzlich mögen sich alle furchtbar gerne und feiern gemeinsam.
Es ist schwer bis unmöglich diesem nationalen Taumel aus dem Weg zu gehen. Dass es sich hier nicht nur um das Spiel dreht, zeigt sich schnell. Hier geht es nicht darum, wer schöner und besser Fußball spielt, denn schon vor dem Spiel ist ganz klar, für wen gejubelt wird und zwar für Deutschland. Bei diesem Phänomen wird häufig von Partypatriotismus geredet. Im Gegensatz zum Nationalismus gehe es vor allem um den Spaß und das gemeinsame Feiern. Es wird angeführt, dies hätte keinen ausgrenzenden, sondern ganz im Gegenteil, einen integrativen Charakter. Doch Patriotismus und Nationalismus haben den gleichen Kern – die Identifikation mit der eigenen Nation.
Die Unterscheidung zwischen Patriotismus und Nationalismus ist ein spezifisch deutsches Phänomen.
Hierbei wird von „in-group-love“ gesprochen, der Liebe zur eigenen Gruppe. Patriotismus bzw. Nationalismus ist dabei eine Emotion, die aus dem Stolz auf die Nation erwächst.3
Was das „Feiervolk“ anlockt, ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein Teil eines großen Kollektivs zu sein, in dem die gemeinsamen Siege zelebriert werden.
Gesellschaftliche Probleme rücken in diesen Phasen in den Hintergrund.
Es scheint egal zu sein, welcher Beschäftigung nachgegangen wird, aus welchen „sozialen Zusammenhängen“ der_die Einzelne kommt, oder ob der_die lärmende Nachbar_in gestern noch der_die Erzfeind_in war. Wenn der deutsche Freudentaumel beginnt, scheinen bürgerliche Kategorien wie aufgehoben und alle liegen sich in den Armen.
Denn es geht doch um „uns Deutsche“, „wir Deutschen“ holen uns den Pokal und „wir“ werden Europa-, respektive Weltmeister.
Diejenigen, die dem Jubel bei den Festivitäten ausweichen wollen, oder sich gar einem anderen Team zugehörig fühlen, werden von der vereinten Masse diskreditiert und ausgegrenzt. Von bürgerlichen Werten, wie beispielsweise Toleranz, ist dann nicht mehr all zu viel übrig. Besonders Fußballspiele haben eine so hohe Anziehungskraft, da ihnen ein hohes Potential der Selbstwertsteigerung innewohnt. Schon allein der Aufbau des Spieles ist hier bestimmend. Wo es ein „Wir“ gibt, gibt es eben auch ein „die Anderen“. Die Zuteilung in Fremd- und Eigengruppen ist beim Fußball relativ leicht. Beide Mannschaften stehen in Konkurrenz und im ständigen Vergleich zueinander.
Während die Eigengruppe aufgewertet wird, widerfährt der Fremdgruppe eine Abwertung.
Wenn das eigene Team, mit welchem sich maßgeblich identifiziert wird, gewinnt, steigert sich auch das Selbstwertgefühl. Aber auch im Falle des Verlustes gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen. Bei vielen führt es hierbei zunächst zu einer Enttäuschung, bei der Tränen fließen und schnell findet man andere Erklärungsansätze für die Niederlage der eigenen Mannschaft. „Die Anderen haben gefoult“, „der Schiedsrichter hat nicht richtig geguckt, ist nicht kompetent genug“ oder „war doch parteiisch“.
Dieses Phänomen ließ sich besonders gut bei der italienischen Mannschaft beobachten, der durch ihre vielen Siege schnell vorgeworfen wurde, anstatt Fußball, Schauspielerei zu trainieren.
An dieser Stelle kann auch wieder auf den Kern des Nationalismus verwiesen werden – die Identifikation mit dem eigenen Land. Das Konstrukt der nationalen Identität funktioniert auch durch die Unterscheidung zwischen Fremd- und Eigengruppe. Dem „Wir“ – die Deutschen und dem „die Anderen“. Bei internationalen Fußballmeisterschaften taucht dieser Aufbau wieder auf. Das Ausleben des Bedürfnisses nach nationaler Kollektivität im Fußball führt zu einer Verfestigung des Nationalbewusstseins. So veranschaulicht die Studie „Deutsche Zustände“ von Wilhelm Heitmeyer aus dem Jahr 2006, dass Personen, die im Anschluss an die WM befragt wurden, sich nationalistischer äußerten, als eine Vergleichsgruppe vor der WM.
Des Weiteren kam es von Seiten deutscher Fans zu gewalttätigen Übergriffen auf italienische Fans bei der WM 2006 und sogar zu Anschlägen gegen Döner-Imbisse bei der Europameisterschaft 2008. Die spärliche Berichterstattung berief sich dabei darauf, dass diese Gewalt von wenigen Rechtsradikalen ausgehe, die die Feiern als Plattform für ihre Ideologie benutzen würden. Dabei wurde sichtbar, dass das Problem der Gewalt gegen Migrant_innen an den Rand der Gesellschaft geschoben und die Mehrheitsgesellschaft von der Verantwortung befreit wurde. Das veranschaulicht einmal mehr, worin Patriotismus münden kann und dass es eben keine progressiven Formen von Patriotismus gibt.
Reaktionen auf Sieg oder Verlust zeigen: Das Schicksal der deutschen Mannschaft wird zum eigenen Schicksal. Die ständige Angst des Scheiterns und Verlierens in der kapitalistischen Gesellschaft, der andauernde Konkurrenzkampf und die dadurch entstehende Vereinzelung der Menschen in der Gesellschaft schüren den Wunsch nach einer Identifikation mit dem Kollektiv durch alle Schichten hindurch. An dieser Stelle ist auf den vorhergegangen Text zu verweisen.
Die alle zwei Jahre ausgetragenen Wettkämpfe der deutschen Mannschaft bieten hier also eine willkommene Gelegenheit diesem Alltag, der Angst des Versagens, zu entfliehen und im nationalistischen Taumel aufzugehen.
3 „Party-Patriotismus ist Nationalismus“ von Markus C. Schulte von Drach. 29. Juni 2014, Süddeutsche Zeitung