Abriss zu Historie und Spezifik des deutschen Nationalismus

Täglich begegnen uns Symbole und Rituale, die wir unkritisch hinnehmen, während uns Ausmaß und Bedeutung dieser kaum bewusst sind. Teile jener Alltagskultur lassen sich einfach und nachhaltig entmystifizieren, indem man seinen Blick für die Geschichte und Entwicklung dieser schärft. Gerade zu Zeiten des nationalen Freudentaumels, etwa bei Fußballgroßereignissen wie WM und EM, werden kleine Gesten und ihre große Bedeutung gerne heruntergespielt und als Mitmachpflicht deklariert. Der folgende Text soll als eine Grundlage zur Reflexion dieses Phänomens dienen.

Zunächst sei noch angemerkt, dass der Begriff der deutschen Nation, sowie deren Bildung zwar erst um 1800 aufkam, jedoch sollte nicht vergessen werden, dass sich auch im Heilligen Römischen Reich Deutscher Nation, so genannt seit 1550, schon Ansätze der später als typisch deutsch übernommenen Eigenschaften entwickelten. Als besondere Beispiele zu nennen sind die zahlreichen Pogrome und Aufwiegelungen gegen Jüdinnen und Juden, zum Beispiel durch Martin Luther, und die starke gedankliche Trennung von Germanentum zu Italiener_innen/Französ_innen etc.

Anfänge der deutschen Nation

Zwei Dinge begünstigten das Aufkommen des deutschen Nationbegriffs: Zum einen schrieben Denker wie Fichte und Herder über die Kulturnation Deutschland, die sich nicht durch Staatsgrenzen definieren ließe, sondern alleine durch die Ethnie der Deutschen. Beiden war es wichtig, dass sich diese Nation von Frankreich loslöse. Zum Anderen wurden diese deutschen Gefühle und Sehnsüchte durch die Besetzung der Rheingebiete mit provoziert und entfachten weiter Wünsche nach einem geeinten Deutschland. Kurzer Rückblick: Durch die französische Revolution waren feudale Zwangsverhältnisse aufgebrochen worden und es entstanden erstmals Formen von Bürgerlichkeit in Frankreich. Die Menschen befanden sich nicht mehr in Abhängigkeit zu Lehnsherren, sondern (zunächst insbesondere Männer) galten als gleichgestellte und selbstbestimmte Individuen in der Gesellschaft, unter Napoleon schließlich schriftlich festgehalten im (Gesetzbuch) „Code Civil“. Als Napoleon dieses auch in den besetzten Gebieten durchzusetzen vermochte, stieß er in der deutschen Nationalbewegung auf Ablehnung, welche auf dem Wartburgfest 1817 ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Auf diesem verbrannten die nationalgesinnten Burschenschafter im Rahmen einer durch antisemitische, antifranzösische und völkische Ideologie gezeichneten Bücherverbrennung auch den „Code Civil“. Jene Ablehnung begründete sich auch durch die festgelegte Emanzipation von Jüdinnen und resultierte in monatelangen, antijüdischen Pogromen im gesamten deutschen Bund, den Hep-Hep-Unruhen.

Bedingt durch die Repression des österreichischen Kanzlers Metternich gelangte in den folgenden Jahren die deutsche Nationalbewegung beinahe zum Stillstand. Ausgelöst durch die französische Julirevolution 1830 erlebten die liberalen Kräfte der Nationalbewegung einen erneuten Aufschwung und organisierten mit dem Hambacher Fest die erste nationale Massenkundgebung im deutschen Bund.

Die Paulskirchen Verfassung

Mit der Revolution im deutschen Bund von 1848 versuchten die Liberalen nach französischem Vorbild die Strukturen der Restaurationsmächte (Heilige Allianz: Bündnis aus Russland, Österreich, Preußen, Frankreich) abzulösen, einen deutschen Nationalstaat zu bilden und bürgerliche Rechte einzufordern. Aufstände im gesamten deutschen Bund zwangen die Herrscher zum Einlenken und die Liberalen beriefen die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ein, welche die verfassungsgebende Institution des deutschen Einheitsstaats unter Führung des preußischen Königs bilden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, welche Regionen ein deutscher Staat miteinschließen sollte und unter wessen Führung dies geschehen würde. So sah die großdeutsche Lösung vor, dass Österreich Bestandteil und leitende Kraft des neuen deutschen Staates werden sollte. Diese Idee schaffte es jedoch nicht, sich gegen die kleindeutsche Lösung durchzusetzen, welche Österreich ausschloss und Preußen an die Führung setzen wollte. Auch dies scheiterte jedoch schließlich zum Einen an der Haltung Wilhelm des IV. von Preußen, welcher die durch die Nationalversammlung gewählte Kaiserwürde ablehnte, da er kein „Kaiser von Volkes Gnaden“ sein wollte, und zum Anderen am mangelnden Rückhalt für liberale Ideen durch weite Teile der deutschen Bevölkerung, was zur Stagnation der Nationalbewegung und zur Wiederherstellung der alten Ordnung durch die Restaurationskräfte führte.

Entwicklung zum Deutschen Kaiserreich

Nach dem innerdeutschen Krieg 1866 zwischen Österreich und Preußen unterteilte sich der Deutsche Bund in den Norddeutschen Bund mit dem Sieger Preußen an der Spitze und den aus den süddeutschen Fürsten- und Herzogtümern bestehenden Südbund, während sich Österreich auf innerpolitische Differenzen konzentrierte. Der Kanzler des Norddeutschen Bundes und gleichzeitige Ministerpräsident Preußens, Otto von Bismarck, sah einen militärischen Konflikt mit Frankreich als unvermeidbar und erkannte im Krieg das geeignete Mittel, die nationale Einigung Deutschlands unter preußischer Führung durch „Blut und Eisen“ zu vollenden. Das Resultat war der Sieg Preußens und seiner süddeutschen Verbündeten und die Gründung des deutschen Kaiserreichs unter Abkehr von bürgerlichen Freiheiten und liberalen Forderungen. Diese Abkehr war das Ende liberaler Hoffnungen der Nationalen auf eine Republik. Der Spiegelsaal von Versailles als Ort der Kaiserproklamation war nicht zufällig gewählt, vielmehr war er eine Manier des deutsch-französischen Revanchismus und zielte auf die Erniedrigung und Entwürdigung Frankreichs. Auch in den folgenden Jahren richtete sich Deutschlands Außenpolitik insofern nach Frankreich, dass Bismarck über verschieden Arten von Bündnissen Frankreich in die außenpolitische Isolation zu verdrängen gesuchte.

Die fortschreitende Gleichstellung der Jüdinnen und Juden in Deutschland wurde 1871 in der Reichsverfassung verankert und somit formal abgeschlossen. Doch gegen eine Emanzipation des Judentums wandte sich eine antisemitische Propaganda, die sowohl altbekannte Ressentiments aufgriff, als auch die Jüdinnen und Juden als Projektionsfläche für neu auftretende Probleme der Industrialisierung nutzte; das Judentum wurde für Kapitalismus und Ausbeutung, wie auch für Sozialismus und Marxismus verantwortlich gemacht. Erstmals wurden das „typisch jüdische“ Aussehen und dessen Charakter konstruiert und verbreitet. Ferner sollten Jüdinnen und Juden die Schuld am Börsencrash von 1873 tragen, während 1873 bis 1890 über 500 Werke zur „Lösung der Judenfrage“ im deutschen Kaiserreich veröffentlicht wurden. Weiterhin formierten sich die ersten antisemitischen Parteien, sowie eine „Antisemiten-Petition“ (anfangs gar von Bismarck befürwortet), welche verlangte, dass wesentliche jüdische Gleichstellungsrechte zurückgenommen werden sollten, die mindestens 225.000 (darunter 4.000 d.h. 19% aller Studierenden) Bürger_innen im deutschen Reich unterschrieben.

Zeit des Imperialismus

Deutschlands Außenpolitik zeichnete sich durch Hegemonialbestrebungen und eine aggressive Expansionslinie aus, die ihm einen „Platz an der Sonne“ beschaffen sollte. Mit andauernden kleineren kriegerischen und diplomatischen Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte und deren Wettrüsten, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Konflikt um die Machtfrage innerhalb Europas sich in einem Krieg entlud, welchen das Deutsche Kaiserreich nach dem Mord in Sarajevo mit Zuspruch mitbegann. Umzingelt von Feinden war es lediglich eine Frage der Zeit, bis das Deutsche Reich eine Niederlage erfuhr und sich in Versailles der alleinigen Kriegsschuld verantwortlich zeigen musste. Trotz der aussichtslosen Lage waren die rechtskonservativen Nationalen nicht bereit, ihre Niederlage und den Friedensvertrag von Versailles anzuerkennen. Lediglich das selbstständige unterzeichnen desselben durch Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum [katholisch-konservative Partei]), verhinderten eine langfristige Besetzung des (gesamten) deutschen Reiches. So irrational wie die Verweigerung gegenüber dem Friedensvertrag mit unter anderem dem Erbfeind Frankreich, war der beharrliche Wille der Seekriegsleitung, trotz eingeleiteten Vorverhandlungen zum Waffenstillstand, die deutsche Flotte in ein letztes märtyrerisches Gefecht gegen die britische Marine zu fahren. Die Gehorsamsverweigerung der Matrosen war Grundstein zur Auflehnung der Bevölkerung gegen das Kaiserreich, zur Abdankung Kaiser Wilhelm des II. und der Ausrufung der Weimarer Republik durch die Sozialdemokraten.

 

Weimarer Republik

Die neu entstandene Republik bestand von innen aus wilhelminischen Anhängern und Nationalisten, welche einen autoritären Staat mit überhöhtem Nationsbegriff erkämpfen wollten. Sie alle einte eine Revisionspolitik gegenüber der „Knechtschaft“ des Versailler Vertrags und eine antidemokratische, wie offen völkische Haltung. Wie bereits im Kaiserreich, war für die Nationalgesinnten die Trennlinie zwischen Sozialismus und Judentum verschwindend gering. So wurden Politiker_innen der SPD als Vertreter_innen der „Judenrepublik“ angesehen und die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein auf Fälschung beruhendes Protokoll, welches einer Gruppe Jüdinnen und Juden das Anstreben der Weltherrschaft zuschreibt, durch ihren Einfluss international verbreitet. Weiterhin wurden sowohl im Judentum, als auch nach der „Dolchstoßlegende“, (welche besagt, dass das deutsche Militär im Ersten Weltkrieg nur versagt hatte, da es keinen Rückhalt von bestimmten Bevölkerungsgruppen wie z.B. Sozialdemokrat_innen, „Vaterlandslosen“ u.a. erhalten habe), im Sozialismus eine Begründung für die Niederlage im ersten Weltkrieg gesehen.

Die Zeit des Nationalsozialismus

Nationalistische Ideologien und Antisemitismus erstreckten sich weiter bis in die frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und ebneten unter anderem den Weg für Volksgemeinschaftsideologie und Führerkult der Nationalsozialisten, sowie die Einteilung in lebenswerte und nicht lebenswerte Rassen. Während sie den minderwertigen „Rassen“ jegliches Existenzrecht aberkannten und nach „naturgegebenem Recht“ die Gebiete eben solcher annektierten, legitimierten sie Kriegshandlungen. Hierbei differenziert die nationalsozialistische Ideologie zwischen dem „deutschen Arier“ als „Übermenschen“ und dem Judentum als Synonym für „parasitäres, undeutsches“ und negatives, dessen Vernichtung zur Staatsräson erklärt wurde.

Mit der Unterordnung des Individuums in die Volksgemeinschaft wurden die verschiedenen politisch rechts zuzuordnenden Lager im Nationalsozialismus vereint und arische Rassenideologie und Judenverfolgung in die Realität umgesetzt, woraus in letzter Konsequenz die Shoah – die industrielle Vernichtung der Jüdinnen und Juden als Selbstzweck – resultierte, die deshalb ein Alleinstellungsmerkmal in der menschlichen Historie einnahm. Trotz Fokussierung auf die Gräueltaten, die den Jüdinnen und Juden angetan wurden, sollte man die Verbrechen gegenüber Homosexuellen, Behinderten und anderen politisch Verfolgten, sowie der Porajmos nicht vergessen.

Deutsche Zweistaatlichkeit und das „deutsche Volk“

Mit dem Sieg der Alliierten und der Unterteilung Deutschlands in die realsozialistische „Deutsche Demokratische Republik“ und die westlich-kapitalistische „Bundesrepublik Deutschland“ wurden die nationalsozialistischen Verbrechen in beiden Staaten unterschiedlich rezipiert, was zu verschiedenen Formen des Nationalismus führte. In der DDR offen völkisch geführt, in der BRD durch die Westalliierten restriktiviert und deshalb nicht öffentlich praktiziert. Während sich die Entnazifizierung in der BRD größtenteils auf hochrangige Akteure konzentrierte, versuchte die DDR dies rigoros in allen Gesellschaftsschichten durchzusetzen. Obwohl beide deutsche Staaten sich ideologisch gegenüberstanden und territorial voneinander abgrenzten, verstand sich die Bevölkerung als „ein Volk“, was sich schließlich in der Entwicklung der Parole der Montagsdemonstrationen von „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“ widerspiegelte und den völkischen Charakter aufweist.

Es bleibt festzuhalten…

Seit den Anfängen der deutschen Nationalbewegung lassen sich spezifisch deutsche Muster erkennen: Eine emotionale Bindung zum „Volkskörper“, welchen man „gesund“ halten möchte. Dies gesucht man zu erreichen, indem man „Undeutsches“, also Jüdinnen und Juden, Ausländer_innen, Behinderte, Kriminelle etc. von ihm fern hält, ihn davon „befreit“. Vor allem die Fixierung auf Jüdinnen und Juden, als Hauptfeinde des Deutschen, muss an dieser Stelle betont werden, und damit die besondere Stellung des Antisemitismus im deutschen Nationalismus. Dieses reaktionäre und irrationale Gedankengut konnte lediglich aufrecht erhalten werden, da kaum Kritik und Gegenwehr formuliert bzw. praktiziert wurden. Weiterhin lässt sich ein starker Bezug zu Mythenbildung und Romantisierung finden, so wird sich über Tacitus Werk Germania auf die Stärke, Intelligenz und das Durchhaltevermögen der Germanen unter Hermann berufen, durch die Nibelungensage auf die „Nibelungentreue“ oder, in der Neuzeit, auf ein deutsches Wirtschaftswunder und das Wunder von Bern, welches unkritisch und blind glorifiziert wird, um die Nation zu preisen. Diese, oder ähnliche, Mystifizierungen dienen der Legitimation und Darstellung der deutschen Nation und ihrem „Volk“.

In jedem Fall lässt sich eine klare antiaufklärerische Tendenz erschließen. Weiterhin muss die klare Abgrenzung des deutschen Nationalismus vom z.B. französischen Modell postuliert werden. Die deutsche Nationalidee war von Grund auf exklusiv, was bedeutet, dass Nationen nur aus Menschen gleicher Abstammung, Tradition und Muttersprache bestehen, sowie dass das Individuum stets das Kollektiv, also „sein Volk“, als Hauptträger seiner Identität verstehen müsse. Die französische Nationalidee stellt durch ihren inklusiven Charakter eine klare Gegentendenz dar, welche die Nation als Wertegemeinschaft versteht, die Rechte und Pflichten dem_der Bürger_in auferlegt, jedoch auch seine_ihre Entwicklung und Eigenständigkeit betont. Es wird kein völkisches Kriterium zur Teilhabe an diesem Nationalgedanken herangezogen. Zwar bevorzugen wir den französischen Ansatz stark gegenüber dem deutschen, doch bleibt jegliche Subsumierung von Individuen in Kollektive grundsätzlich falsch.