Die Sozialpsychologie des Nationalismus

Nationalismus ist nicht als logisches Konzept zu verstehen. Er bedient sich der Gefühlsebene. Das Kollektiv soll hierbei quasi über den Dingen schweben und ein Gemeinschafts- oder neuer ein „Wir-Gefühl“ hervorrufen. Hierbei verlässt das Konzept Nation aber offensichtlich den Bereich der reinen Konstruktion. Dadurch, dass alle glauben, die Nation sei Realität, wird sie Realität und hat so ganz konkrete Folgen für all diejenigen, die dem Zwangskorsett der bürgerlichen Gesellschaft unterliegen. Die normative Kategorie Nation wird als selbstverständlich angenommen und in Form von nationalen Grenzen gefestigt. Die Grundlage hierfür bietet die bürgerliche Ideologie und ihre Idee von Besitz. Die aberwitzige Vorstellung, dass das Land, etwas, dass einfach da ist, jemandem oder eben einer Nation gehöre, wird dann zur Realität, wenn Staatsgrenzen gezogen werden und teilweise durch Zäune und Mauern zu einer physisch erfahrbaren Realität werden.

Um zu begreifen, warum es den Menschen so sehr gefällt, sich mit dem Kollektiven „Wir“ einer Nation zu identifizieren, ist es notwendig ihre Psyche zu analysieren.

Schon früh ist das Leben der Menschen in bürgerlichen Gesellschaften geprägt von Anpassungen, dies fängt in der frühen Kindheit an, egal ob man es möchte oder nicht. Hierbei ist egal, ob man morgens in der Kälte raus zur Schule muss, Angst hat, seinen Arbeitsplatz zu verlieren oder gar nicht erst zu bekommen oder Bemerkungen von Kund_innen/Vorgesetzten/Dozent_innen/Kolleg_innen runterschlucken muss.

Im Laufe eines Lebens werden die Menschen oft und nachhaltig gekränkt. Einige Kränkungen werden uns jedoch direkt durch die kapitalistischen Sachzwänge zugefügt. In der Leistungsgesellschaft ist nur diejenige Person etwas wert, die Mehrwert produziert und etwas „erreicht hat“.

Wer nicht die Chance hatte, am „schneller, höher, weiter“ teilzunehmen, oder keine Lust, wird als „unwert“ und belastend wahrgenommen. Aber nicht nur das soziale Umfeld urteilt so. Oft nehmen sich die Menschen selbst als „minderwertig“ wahr. In der Konkurrenz um Arbeits-/Ausbildungsplätze, dem „Buhlen“ um Kunden etc., bleiben manche auf der Strecke. Immer besser, schneller, toller als andere sein zu müssen, führt zu einem Zwang zur Selbstoptimierung.

Da die bestehenden Verhältnisse gewissermaßen als Gottgegeben erscheinen und man von früh an mit ihnen konfrontiert ist, kommt es zu einer Verinnerlichung jener beschriebenen Zwänge. Man findet sie (unbewusst) richtig und stellt an sich selbst den Anspruch, ihnen nachzukommen. Insbesondere in Krisenzeiten bleibt es jedoch den allermeisten verwehrt, dem eigenen Ideal gerecht zu werden, wodurch sich Gefühle von Scham und Frustration bis hin zur Depression einstellen.

Welt- und Europameisterschaften bieten hier eine willkommene Möglichkeit, der Realität zu entfliehen. Das eigene Ich wird in der Fanmeile zum Teil der Masse; die eigene beschädigte Identität wird abgestreift und die Gruppenidentität übernommen. Gleichsam kommt es zu einer Metamorphose der eigentlichen Gefühle. Der Scham wird zum Stolz, die Frustration zur Euphorie. Im Kollektiv scheinen die eigenen „Unzulänglichkeiten“ durch die „Stärke“ der Masse kompensiert zu werden. Das Kollektiv wird dann durch die Herausbildung von In- und Outgroups gestärkt. („Wir gegen Die“ sprich „Deutschland gegen X“).

Ein weiterer Erklärungsansatz für den schwarz-rot-goldenen Taumel bietet die doppelte Rolle, die jede_r Einzelne in der kapitalistischen Welt spielt. Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist vereinfacht gesagt zweigeteilt: Politik und Wirtschaft. Vergleichbar sind die Menschen, die in der bürgerlichen Gesellschaft leben, zweigeteilt: Staatsbürger_in und Wirtschaftssubjekte.

Anschließend an die Theorie der sozialen Identität von Henri Tajfel von 1986, versucht jede_r Einzelne ein möglichst gutes Selbstbild von sich zu haben. Als Wirtschaftssubjekt faktisch oder gefühlt gescheitert, überbetont der_die Einzelne seine_ihre Funktion als Staatsbürger_in und somit auch das staatliche Kollektiv: Die Nation.

Zusammenfassend lässt sich der Nationalstolz als Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaft charakterisieren.

Die seelische Kränkung der Menschen, die in ihr leben, findet Linderung in der Unterordnung unter das Kollektiv, welches ihnen etwas vom vorher gestohlenen Selbstwert scheinbar zurückzahlt.

Aus dieser Überlegung erübrigt sich auch die Argumentation für einen „guten Patriotismus“ gegen einen „schlechten Nationalismus“. Wenn beide der gekränkten Psyche des Menschen entspringen, dann ist der Unterschied kein wesentlicher, sondern lediglich ein Unterschied im Grad der Ausprägung. Anschließend an Theodor W. Adorno kann argumentiert werden, dass die wesentliche Falschheit des Nationalstolzes nicht erst in der Abwertung fremder Gruppen, sondern in der Identifizierung mit der eigenen Gruppe beruht.

Die Nation wird von den Einzelnen nicht bewusst gewählt oder gar als Konstruktion erkannt. Die Individuen wachsen in einer Umwelt auf, in der die Naturgegebenheit der Nation behauptet und vorausgesetzt wird. Die Nation wird hier als ein Zusammenhang verstanden, in dem Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, einem engen kulturellen und religiösem Hintergrund entstammen und (in der Regel) eine über Generationen nachvollziehbare Familiengeschichte aus einem regional klar definierten Raum haben. Dieser Zusammenhang verbindet vermeintlich Individuen miteinander, die keinen persönlichen Kontakt haben müssen, aus völlig unterschiedlichen sozialen Kontexten stammen können und deren Lebensrealität vielleicht überhaupt nichts gemein hat. Ein Hartz 4 Empfänger, der jeden Tag darum kämpfen muss, sein Leben zu bewältigen, kann sich der Nation genauso zugehörig fühlen, wie eine gutbezahlte Star-Anwältin, die halbjährlich in Monaco lebt. Dass dies den Leuten nicht merkwürdig vorkommt, hat damit zu tun, dass die Nation als etwas schon immer dagewesenes behauptet wird. Es wird eine lange nationale Geschichte angenommen, die sich im Falle der Deutschen von der Schlacht im Teutoburger Wald, über Karl den Großen bis in die Gegenwart, ungeachtet historischer Umwälzungen, wie politischer Veränderungen und Bevölkerungsverschiebungen, kontinuierlich fortzuschreiben scheint. Dass die deutsche Nation erst im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die napoleonische Besetzung und mit den preußischen Hegemonialbestrebungen entstand, wird hierbei geflissentlich übersehen.

Die Identität des_r Nationalist_in ist trotz allem eine sehr wacklige. Alles was dieses Identitätskonzept in Frage zu stellen vermag, wird entweder gewaltvoll ausgeschlossen oder integriert, um die Widersprüche zu beseitigen. So wird zum Beispiel ein „Migrationsproblem“ behauptet. Die Frage ist, wie die deutsche Nation sich selbst erhalten kann, wenn immer mehr Menschen mit einem kulturell anderen Hintergrund hier leben. Die Antworten sind entweder Fremdenhass: es wird versucht die sogenannten „Ausländer“ aktiv aus der Gesellschaft auszuschließen oder gar wieder zu verjagen, oder Integration: anstatt die Menschen einfach so zu akzeptieren, wie sie sind, werden sie dazu gezwungen, sich anzupassen und sich der vermeintlichen Leitkultur zu verschreiben. Etwas, das einem traditionalistischen Bayern nie in den Sinn kommen würde. Wer aber von „Außen“ kommt und hier leben will, hat nach nationalistischer Logik nicht das Recht die eigenen Gewohnheiten zu behalten, sondern muss sie weitestgehend beschneiden. Im Einzelfall ist es dann noch möglich neben einer perfekten deutschen Aussprache, einem respektablen Job und deutsch erzogenen Kindern in Form von Folklore und Ähnlichem, an die Herkunft zu erinnern. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht gewisse Grundsätze in einer modernen Gesellschaft geben sollte, die verbindlich sein sollten. Aber es werden bei Menschen mit Migrationshintergrund andere Maßstäbe angesetzt. Patriarchale Strukturen in der türkischstämmigen Community werden so medial anders dargestellt als der Alltagssexismus in der „deutschen“ Mehrheitsgesellschaft.

Der Nationalismus ist für das bürgerliche Subjekt eine Möglichkeit die eigenen „Unzulänglichkeiten“ im kapitalistischen Wettbewerb durch die vermeintliche Stärke des Kollektivs zu überspielen. Das eigene Lebenskonzept in der Leistungs-/Verwertungsgesellschaft wird nicht hinterfragt.

Je größer die Prekarisierung und je stärker der Konkurrenzdruck in den neoliberalen Verhältnissen, desto größer ist die Sehnsucht nach dem schichten-übergreifenden Gemeinschaftserlebnis, das die Fanmeilen und der Fußballnationalismus versprechen.“2

2 Dagmar Schediwy Publikative.org Interview 22.05.2012